1997 habe ich meine Mutter anlässlich ihres 75. Geburtstags eingeladen, gemeinsam nach Hinterpommern zu fahren. Sie ist in einem kleinen Dorf, in Latzig, geboren und in Köslin zur Schule gegangen. Meine Großmutter stammte aus Schlesien und wurde mit zehn Jahren nach Köslin geschickt, weil die Schwester ihrer Mutter dort einen Bäcker geheiratet hatte. Sie konnte dort die „Oberschule“ besuchen, was offenbar in Schlesien nicht möglich war. Mit 18 heiratete sie einen Gutsverwalter, auf dem Gut wuchsen ihre vier Kinder auf.
Meine Mutter hat ihren Eltern abgerungen, eine Ausbildung zur Krankenschwester machen zu dürfen und war, Jahrgang 1922, somit als junge Frau in Berlin. Sie erlebte die Bombennächte, aber hat auch Theater, Kino in der Großstadt mitten im Krieg kennengelernt. Ihr Krankenhaus wurde später nach Rügen evakuiert, von dort ist sie 1945 von Sassnitz aus nach Dänemark geflohen. Zwei Jahre musste sie in einem Internierungslager leben, bevor sie ausreisen durfte. Ich habe ihr Tagebuch aus jenen Tagen gelesen. Am meisten berührt hat mich ihre Frage: „Kann es sein, dass man uns derart betrogen hat?“ Nein, im Widerstand war sie nicht, da gibt es keine heroische Familiengeschichte. Aber die Erkenntnis, „fake news“, wie wir heute sagen würden, auf den Leim gegangen zu sein, den falschen Erzählungen vertraut zu haben, hat sie ihr Leben lang begleitet.
Mein Großvater glaubte nicht, dass die Sowjetarmee Hinterpommern erreichen würde. Für Flucht war es am Ende zu spät. Er kam in ein Lager, wurde nach Sibirien verfrachtet und starb auf dem Transport. Meine Großmutter konnte 1946 mit ihrer ältesten Tochter und deren drei Kleinkindern nach Hessen fliehen. Im Forsthaus ihrer Schwester dort fanden sie Zuucht – ein schönes Wort, oder? 1947 erreicht meine Mutter das Haus, auch ihre beiden Brüder konnten nach Kriegsgefangenschaft dorthin gelangen.
Ich denke, diese Geschichte hat meine ganze Familie geprägt. Menschen auf der Flucht „dauern“ uns, noch so ein schönes al- tes Wort. Die Heimat verlassen müssen, ist kein selbstgewähltes Abenteuer, sondern von Entsetzen und Unsicherheit geprägt.
Nachdem wir Latzig erreichten, war ich nicht so sicher, ob wir überhaupt auf das Gelände gehen könnten. Offen gestanden war ich ein wenig schockiert: Das Elternhaus meiner Mutter war in den Erzählungen irgendwie viel schöner und größer ge- wesen. Als wir ankamen, waren dort zwei sehr freundliche jün- gere Polen, die offenbar ahnten, warum wir da waren. Eine gemeinsame Sprache hatten wir nicht, aber sie luden uns ein, hereinzukommen. Meine Mutter fand den alten Kachelofen vor, an dem sie als Kind gesessen hatte. Wir haben uns freundlich verabschiedet und sind spazieren gegangen. Meine Mutter fand vor al- lem berührend, dass sie die Bäume wiedererkannte, diesen Wald, der all das Grauen überlebt hatte. Wir waren auch in Köslin und von dort aus an der Ostsee. Am Ende sagte sie: „Das war schön, aber Heimat ist jetzt wirklich woanders.“
Auf der Rückfahrt sind wir noch an den ehemali- gen Gütern der von Bismarcks und der von Thadden-Trieglaffs vorbeigefahren. Beide haben später Kirchentagsgeschichte geschrieben. Thadden-Trieglaff hatte in der Kriegsgefangenschaft am Eismeer die Vision der Kirchentagsbewegung entwickelt. Klaus von Bismarck hat auf dem Kirchentag 1954 in Leipzig eine denkwürdige Rede gehalten. Sie ist für mich bewegend, w„eil er sagte, wenn heute polnische Landwirte die Felder bewirtschafteten, die noch immer auf den Namen seiner Familie eingetragen seien, dann sei das gut so. Er wisse, er könne sie nur um den Preis eines Krieges zurückerhalten, und das wolle er nicht. Die Rede hat damals große Aufregung verursacht, ich finde sie bis heute sehr, sehr mutig.
Ich war seitdem oft in Polen. Mit dem Pfarrer der lutherischen Gemeinde in Köslin habe ich mich für den Aufbau eines Gemeindehauses engagiert. Auf Einladung der Frauen der lutherischen Kirche dort habe ich einen Abendmahlsgottesdienst in Warschau gehalten. In Breslau habe ich vor der lutherischen Synode vom Reformationsjubiläum berichtet. Und mit der Freya von Moltke-Stiftung, in deren Kuratorium ich mich engagiere, war ich in Kreisau. Polen hat eine schwere, belastende Geschichte. Über viele Jahrzehnte war allein die römisch-katholische Kirche Identitätsmerkmal, weil es schlicht kein eigenes Territorium gab. Und dann hat in Polen der Aufbruch begonnen, der ganz Europa mit dem Fall der Mauer 1989 verändert hat. Ein wunderschönes Land mit liebenswerten, sehr sympathischen Menschen. Schade, dass die jetzige Regierung diese liberalen Aufbrüche mit Füßen tritt. Gut, dass es Menschen gibt, die auch heute mutig dafür eintreten.
Von meinem Ferienhaus auf Usedom sind es 15 Kilometer bis zur polnischen Grenze. Dort, in Swinemünde, existiert inzwischen eine wunderbare Strandpromenade mit Geschäften, Restaurants, Hotels, auf der Polen und Deutsche flanieren – so kann Frieden aussehen, denke ich manchmal.