Indien ist ein faszinierendes Land, keine Frage. Viele Touristen schwärmen von den Farben, der Natur, den Attraktionen wie etwa das Taj Mahal. Letzten November war ich zum vierten Mal dort und muss sagen, ich finde das Land bedrückend, vor allem aufgrund der Situation von Mädchen und Frauen.
Meine erste Erfahrung in Indien habe ich gemacht, als ich in der Vereinigten Theologischen Hochschule in Bengaluru Ende der achtziger Jahre Bibelarbeiten gehalten habe. Der Campus ist eine Oase freien Denkens, so habe ich es empfunden. Männer und Frauen schienen mir dort zumindest gleichberechtigt zu lehren und zu lernen. Aber schon bei diesem ersten Besuch nahm mich Aruna Gnanadason, die damalige Leiterin der Frauenarbeit des Ökumenischen Rates der Kirchen, mit zu einer Demonstration. Frauen standen mitten auf einer Verkehrsinsel im tobenden Autogehupe und demonstrierten schweigend mit Schildern gegen die Verbrennung von Frauen. Aus den Autos heraus wurden sie beschimpft und bedroht. Mich hat das bewegt: Diese schweigende Anklage der Frauen übertönte für mich den Verkehrslärm.
2006 war ich als Landesbischöfin eingeladen zum Festakt aus Anlass des 300-jährigen Jubiläums der Mission von Bartholomäus Ziegenbalg. Ich erinnere mich gut, wie ich mit einem lutherischen Bischof aus Schweden und dem gastgebenden lutherischen Bischof bei gefühlt 42 Grad im Schatten den Festakt, den Gottesdienst und die Einweihung neuer Gebäude gestaltet habe. Einen Ehrendoktor haben wir auch noch erhalten. Am lustigsten habe ich in Erinnerung, dass die Bischofskollegen mit ihren goldglänzenden Gewändern, Mitra und Krummstab wesentlich mehr schwitzen mussten als ich in meinem schwarzen Tropentalar. Sie hatten gelästert, das sei doch etwas schlicht für eine Bischöfin. Aber siehe da, auf den Plakaten mit dem Porträt von Bartholomäus Ziegenbalg war er überall mit einem ebensolchen Talar abgebildet. Die Einheimischen sagten prompt: „So you are from Ziegenbalgs country“ ;-)!
Im Anschluss haben wir kleine lutherische Kirchen auf dem Land besucht. Da waren die Armut und das Elend greifbar. Magere Frauen, die am Bach auf Steinen Kleidung sauber schrubbten. Eine gab mir ihr Baby auf den Arm – ohne Windel! Immer wieder malten mir Frauen einen roten Punkt auf die Stirn und waren begeistert, dass ich die „Leiterin“ der Delegation war. Höhepunkt war der Besuch einer Mädchenschule. Dort wurden insbesondere Mädchen aufgenommen, die von zuhause verbannt wurden, weil sie nicht durchgefüttert werden konnten, kein Geld für eine Mitgift vorhanden war oder die zweite Frau die Töchter der ersten nicht im Haushalt wissen wollte. Tolle Mädchen und junge Frauen, eine engagierte Direktorin, die alles tat, ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen, damit sie auf eigenen Füßen stehen können.
Der dritte Besuch führte im Rahmen der Vorbereitung des Reformationsjubiläums wieder nach Bangalore. Nach dem Vortrag dort berichteten Professoren und Studierende, wie sehr sie sich inzwischen als Christen durch den Hindunationalismus unter Druck fühlten. Und beim anschließenden Besuch der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Neu Delhi wurde bestätigt, wie angespannt die Lage sich für viele zeigt.
Im letzten Jahr war ich als Botschafterin von terre des hommes in Coimbatore. Die Stadt ist eher unbekannt, hat aber mehr als eine Million Einwohner! Sie ist Teil des Textilgürtels im Bundesstaat Tamil Nadu. Der Gründer von terre des hommes, Edmond Kaiser, hat hier gewirkt und ist hier gestorben. Bis heute engagiert sich terre des hommes in der Stadt und ihrem Umland, um Mädchen und jungen Frauen einen Ausweg aus den Textilfabriken zu ermöglichen. Und das ist dringend notwendig. Beim Besuch einer Baumwollspinnerei war schockierend zu sehen, wie die jungen Mädchen und Frauen im Höllenlärm der Maschinen ohne Ohrenschutz, angesichts der herumliegenden Baumwolle ohne Mundschutz und auch oft ohne Schuhe arbeiten. Noch schlimmer fand ich, dass ihre „Hostels“ direkt neben der Fabrik stehen, der Lärm dauert Tag und Nacht an. Sie arbeiten in drei Wechselschichten sieben Tage die Woche. Am achten Tag dürfen sie unter Aufsicht einkaufen gehen. Ansonsten ist ihnen untersagt, das Fabrikgelände zu verlassen. Einmal im Jahr, beim Erntefest, dürfen sie nach Hause. Mir erschien das wie eine moderne Form der Sklavenhaltung.
Beim Besuch eines Bergdorfes wurde offensichtlich, dass viele der Mädchen an
den fünf Tagen zuhause alles tun, damit ihre Eltern sie nicht zurückschicken. Ihnen wird oft versprochen, nach drei Jahren genug Geld für eine Mitgift zu erhalten. Aber diese Zusage wird nicht immer eingehalten. Die Hilfsprojekte gehen einerseits in Schulen, klären über die Situation in den Fabriken auf, ermutigen, einen Schulabschluss zu machen. Andererseits geben sie den Mädchen eine Ausbildungschance, damit sie etwa durch die Produktion von Schmuck, Schokolade oder eigenständiges Nähen Geld verdienen können.
Im Büro der Partnerorganisation von terre des hommes konnten wir mit Opfern sprechen. Eltern etwa, deren Töchter sich suizidiert hatten. Ein Elternpaar allerdings war sicher, dass die Tochter durch einen Unfall ums Leben gekommen war, beweisen konnten sie es nicht, die Fabrik lehnte jegliche Verantwortung ab. Besonders berührt hat mich die 16-jährige Mariyayi. Sie kam mit 13 Jahren in die Fabrik. An einem Tag wurde sie zu einer zweiten Schicht gezwungen. Als sie, schon leicht übermüdet, eine Maschine reinigte, sprang diese an und zerfetzte ihr die Unterschenkel. Da sie keine Eltern mehr hat, lebt sie bei der Familie des Sohnes des Bruders des Vaters (so wurde das stets beschrieben). Dort gibt es aber vier Kinder, die versorgt werden müssen. Die Frau des Cousins ist schlicht überfordert, sie herumzutragen. Die Partnerorganisation, die terre des hommes unterstützt, hat zumindest erreicht, dass die Fabrik am Ende einen Geldbetrag gezahlt hat, der so angelegt wurde, dass Mariyayi einen kleinen Betrag pro Monat erhält. Als
wir fragten, ob sie einen Rollstuhl hätte, hieß es, darauf sei man noch nicht gekommen. Sie solle lernen, mit den Holzkrücken zu leben. Diese aber, sagte sie, bereiteten ihr unendliche Schmerzen. Wir haben ihr auf private Kosten einen Rollstuhl gekauft, der 95 Euro kostete. Das entspricht nicht ganz den Regeln der Entwicklungspolitik, ich weiß. Aber das Schicksal dieses Mädchens hat uns so be- drückt, dass wir irgendwie helfen wollten. Ihr Trauma ist ganz offensichtlich überhaupt nicht bewältigt.
Mir el immer wieder auf, dass es hieß: Das war alles schlimm, jetzt ist sie aber glücklich. Dass das so schnell nicht geht, dafür ist wenig Platz und Zeit in Indien. Frauen müssen heiraten, ein Vater, Ehe- mann, Bruder oder Sohn muss sie „schützen“. Selbst hochgebildete, selbstständige Frauen erzählten, zumindest zum Schein müsse es einen Mann geben, sonst würden sie als Hure diffamiert werden oder würden als Freiwild gelten.
Das alles war bedrückend. Am Schluss haben wir heftig diskutiert: Ist die Konsequenz aus alledem, Kleidung, die in Indien produziert wurde, zu boykottieren? Die indischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sagten, nein. Arbeitsplätze würden ja gebraucht. Was aber nötig sei, wäre eine Unterstützung dabei, dass diese Arbeitsplätze gerecht bezahlt werden, es Arbeitsschutzmaßnahmen gibt, Urlaubsregelungen, Mutterschutz, also elementare Rechte. Da braucht es Lobbyarbeit in Deutschland, auch die leistet terre des hommes...