Das Thema Krieg hat in meiner Kindheit eine große Rolle gespielt. Meine Eltern hatten hautnah erlebt, was Krieg bedeutet. Der Verlust der Heimat in Hinterpommern hat die Familie mütterlicherseits geprägt. „Nie wieder Krieg!“, das war ein cantus firmus bei uns zuhause, also die „Hauptmelodie“. Der Vietnamkrieg hat mich schockiert. Die Bilder der von Napalmbomben gezeichneten Kinder standen aller Welt vor Augen. Als dieser Krieg am 1. Mai 1975 offiziell beendet wurde, war ich mit einem Stipendium in den USA und hatte in den Diskussionen erlebt, dass viele Amerikaner es als Schande ansahen, einen Krieg „verloren“ zu haben. Umso mehr begeisterte mich Martin Luther King. Er vertrat konsequent die Auffassung, dass sich Konflikte gewaltfrei lösen lassen, in Familien, Gesellschaften, zwischen Nationen. Die Menschen könnten Gewaltlosigkeit lernen. Er vertraute auf die Kraft der Liebe ganz im Sinne Jesu. So brachte er die alten biblischen Texte immer wieder aktuell zum Klingen. Dass die Worte Jesu von der Feindesliebe eine ungeheure Wirkung entfalten können, erlebe ich auch heute. Sie werden belacht, sie regen Menschen auf, sie erzeugen Widerspruch – aber sie lassen nicht kalt.
Mich hat beeindruckt, dass Martin Luther King die Kraft hatte, bei seiner pazifistischen Grundüberzeugung zu bleiben, auch als beispielsweise in Birmingham im US-Bundesstaat Alabama am 15. September 1963 eine Bombe in der Sonntagsschule einer baptistischen Kirche vier kleine schwarze Mädchen tötete und 21 weitere Kinder verletzte. Der Ku-Klux-Klan zeigte sich stolz auf diese Tat – das erinnert an den IS, der sich stolz zu Attentaten bekennt, bei denen Kinder sterben. Muss da nicht Gewalt die Antwort sein?
Immer wieder bin ich mit der Frage konfrontiert worden, ob nicht angesichts eines Terrorattentats oder einer humanitären Katastrophe Gewalt die allein mögliche Antwort sei. Ob nicht alles andere lächerlich und naiv oder beides sei. Ich halte es nicht für naiv, weil ich nicht sehe, dass ein militärischer Einsatz in den letzten Jahrzehnten wahrhaftig zum Frieden geführt hätte, zu echtem, tiefem Frieden. Sprechen erst einmal die Waffen, ist Waffenstillstand schwer zu erreichen und gerade wir als Deutsche wissen, wie furchtbar lange es dauert, bis Frieden wird – im Land und in den Menschen.
Am 2. August 1914 spricht der Berliner Hof- und Domprediger Bruno Doehring von den Stufen des Reichstags zu einer großen Volksmenge in einem improvisierten Gottesdienst: „Ja, wenn wir nicht das Recht und das gute Gewissen auf unserer Seite hätten, wenn wir nicht – ich möchte fast sagen handgreiflich – die Nähe Gottes empfänden, der unsere Fahnen entrollt und unserm Kaiser das Schwert zum Kreuzzug, zum heiligen Krieg in die Hand drückt, dann müssten wir zittern und zagen. Nun aber geben wir die trutzig kühne Antwort, die deutscheste von allen deutschen: Wir Deutsche fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt!“ Bei solcher Predigt graust es mir gut hundert Jahre später. Hier haben Menschen Ideologie und Zeitgeist mehr gehorcht als dem Gott, der die Ohnmacht am Kreuz kennt. Auf allen Seiten waren mit wenigen Ausnahmen die Kirchen Europas Teil eines national verblendeten Getöses.
Gott sei Dank haben die Kirchen und die Christen seitdem gelernt. Vor hundert Jahren war der deutsche Protestantismus dem Kaiser als Oberhaupt der Kirche aufs engste verbunden; Kirchenmitglieder wie Kirchenleitungen lehnten mehrheitlich die Weimarer Republik vehement ab und bejahten dann den Nationalsozialismus. Inzwischen sind wir froh über die Trennung von Staat und Kirche und die jeweilige Freiheit, die das bringt. Die Evangelische Kirche spricht nicht mehr von „gerechtem Krieg“, sondern allein von „gerechtem Frieden“. Das ist keine Phrase, sondern das Ergebnis vieler durchlittener Erfahrungen. Die Dresdner Ökumenische Versammlung schrieb 1988 einen „Brief an die Kinder“, in dem es hieß: „Wir alle müssen uns dafür ein setzen, dass niemand mehr einen anderen Menschen in einem Krieg erschießt.“
Soldaten können ihr Amt ausüben um des Friedens willen – das war die Überzeugung Martin Luthers, das ist die Überzeugung großer Teile der Evangelischen Kirche in Deutschland. Persönlich halte ich Kriegsdienstverweigerung für das deutlichere Zeichen. Aber ich respektiere, dass es Soldaten gibt, die dezidiert als Christen ihren Dienst tun – das ist Teil der Gewissensfreiheit, für die unsere Kirche einsteht. Doch im Zeitalter von Drohnen und Massenvernichtungswaffen kann niemand mehr Krieg als ein Werkzeug Gottes sehen. Wenn sich heute Saudi-Arabien als Vertreter der Sunniten und der Iran als Vertreter der Schiiten bekämpfen, ja teilweise zum angeblich „heiligen Krieg“ aufrufen, erinnert das erschreckend an das „Gott mit uns“ auf den Koppelschlössern der christlichen Soldaten, die sich in beiden Weltkriegen bekämpft haben. Wieder wird der Name Gottes missbraucht, um eigene Vorstellungen durchzusetzen. Die blutigen Schlachtfelder von Verdun liegen heute in Syrien, im Jemen oder in Zentralafrika. Und immer leiden zuerst die Kinder und werden traumatisiert fürs Leben. Der Krieg zerstört nicht nur Städte und verwüstet Felder, er prägt die Kinder, Enkel und Urenkel der Täter und der Opfer.
Zivile Methoden der Konfliktbearbeitung brauchen mehr Gehör, Mediation kann gelernt werden. Engagement gegen Aufrüstung muss einhergehen mit Engagement gegen Rüstungsexporte. Wir beklagen die Kriege und Bürgerkriege, wir sind schockiert über die Bilder aus Syrien – aber wir verdienen daran. Die deutschen Rüstungsexporte bleiben ein Skandal.
Vor einigen Jahren durfte ich die Festrede auf Bertha von Suttner halten, die in Gotha an dem Tag bestattet wurde, als am 28. Juni 1914 der österreichische Thronfolger und seine Frau in Sarajewo erschossen wurden. Sie war zutiefst überzeugt, Frieden lasse sich nicht durch Abschreckung, sondern allein durch internationale Vereinbarung, Verhinderung der Kriegsursachen, Abbau von Feindbildern, internationale Verständigung erreichen. Ja, ich weiß, eine Frau der Kirche war die „Friedensbertha“ gewiss nicht, aber ein Vorbild ist sie mir dennoch...