Das geht wohl jedem Menschen so: Erst wenn wir krank sind, wissen wir Gesundheit wirklich zu schätzen. Solange unser Körper funktioniert, vergessen wir gern, dass das überhaupt nicht selbstverständlich ist. In dem Moment, in dem uns allein schon eine heftige Erkältung dazu zwingt, uns einzuschränken, Termine abzusagen, zum Arzt zu gehen, sehen wir das als ärgerlich an. Werden wir auf längere Sicht ausgebremst, macht das sehr nachdenklich.
Ich denke, Krankheit kann uns durchaus positiv beeinflussen. Sie lässt uns bewusster wertschätzen, was Gesundheit bedeutet, welch ein Privileg sie ist. Sehr beeindruckt hat mich, was die mit fünfzig Jahren an Krebs verstorbene Schauspielerin Barbara Rudnik in einem ihrer letzten Gespräche gesagt hat: „So unglaublich es klingen mag, in vielen Dingen hat mir der Krebs eine größere Entspannung gebracht. Ich beginne mal mit dem Äußerlichen: Früher fand ich mich manchmal sehr hübsch, aber zuweilen empfand ich mich auch als geradezu hässlich. Damit hatte ich immer wieder zu kämpfen. Jetzt fühle ich mich diesbezüglich viel stabiler, ein angenehmes Gefühl. Ich habe früher bestimmt viel besser ausgesehen, aber nun kann ich einfach sagen, ich sehe so aus, wie ich aussehe.
Die Diagnose einer schweren Krankheit verändert so manche Perspektive. Es sortieren sich viele Dinge in wichtig und unwichtig. Zum einen musst du dich schlicht fügen: Ärztinnen bzw. Ärzte bestimmen den Rhythmus deiner Tage. Wann welche Untersuchung, wo welche Behandlung. Und dir bleibt nichts anderes übrig, als ihnen zu vertrauen. Im Grunde vertraust du ihnen dein Leben an. Ich bewundere sie, wenn sie in allem Alltagsdruck die Ruhe finden, Ihren Patientinnen und Patienten genau zu erläutern, was die Diagnose bedeutet, welche Behandlung sie vorschlagen, ob es Alternativen gibt – und nicht zuletzt, wie die Heilungschancen stehen.
Nach meiner Krebserkrankung 2006 habe ich immer wieder Briefe von Menschen erhalten, die damit ringen, dass sie selbst oder Menschen, die sie lieben, erkranken. Was bedeutet Krankheit, wie gehen wir im Glauben damit um? Und oft stellt sich auch die Frage nach Schuld: Hätte ich mich besser ernähren sollen? Warum bin ich nicht regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung gegangen? Oder auch: Ich habe doch gespürt, dass etwas nicht stimmt, ich hätte besser auf meine Wahrnehmung achten müssen!
Krankheit aber ist nicht Schuld! Eine Deutung von Leid und Bösem als Strafe wird im Neuen Testament eindeutig zurückgewiesen (zum Beispiel: Lukas 13, 1– 5). Die Geschichte von Jesus Christus fordert uns dazu heraus, die Allmacht und die Ohnmacht Gottes zusammen zu denken. Dietrich Bonhoeffer schreibt in seinen Briefen aus dem Gefängnis: „Gott lässt sich aus der Welt hinaus drängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und nur so ist er bei uns und hilft uns.“
Als Christinnen und Christen haben wir den Mut, die Wunden anzusehen, können wir Gottes Ohnmacht und Gottes Allmacht zusammen denken. Ja, wir müssen die Gebrochenheit des Lebens aushalten, die Kreuzeserfahrung als Teil des Lebens annehmen. In meinem Alter kann ich inzwischen Krankheit, Leid und Krisen als Vertiefung der Lebenserfahrung ansehen. Menschen, die nichts davon erfahren haben, bleiben meist oberflächlich, denke ich manchmal. Interessanter jedenfalls sind diejenigen, die solche Tiefen kennen, denn sie leben anders.
Es ist mir wichtig, mich an die Gefühle aus der Zeit der Erkrankung zu erinnern, sie nicht einfach abzuheften und zu vergessen. Nach dem Abschluss der Behandlungen vor dreizehn Jahren hatte ich dieses Grundgefühl: Ich bin noch am Leben! Die Dankbarkeit, bewahrt worden zu sein, war groß. Ich konnte die mir verbleibende Zeit als geschenkte Zeit wahrnehmen. Auch das ist ja Lebenserfahrung in der Mitte des Lebens: Du gehst durch tiefe Täler, aber du musst nicht unten bleiben, sondern du findest wieder einen Hügel, von dem aus du einen freien Blick über das Land hast. Damals habe ich geschrieben: „Nicht dass ich keine Angst hätte; es wäre doch merkwürdig, so zu tun, als wären mir das Alter, die mögliche Demenz, eine drohende Parkinson- oder Alzheimererkrankung oder eine weitere Krebserkrankung völlig gleichgültig.“
Und doch war es so, dass die Krebserkrankung wieder in den Hintergrund gerückt ist, das ist menschlich, denke ich. Wir können ja nicht ständig in Angst leben, allein das würde krank machen. Als ich dann mehr als zehn Jahre nach der ersten Erkrankung wieder eine Krebsdiagnose hatte, war ich überrascht. Ich hatte nicht damit gerechnet, noch einmal Brustkrebs zu bekommen. Dieses Mal war ich insofern klüger, als ich es für mich behalten habe. Außer meiner Familie und wenigen Freundinnen und Freunden wusste niemand davon. Mich hatte beim ersten Mal die Betroffenheit der anderen manchmal mehr angestrengt als mein eigenes Grundgefühl, mit der Erkrankung umzugehen.
Dieses Mal war ich vor allem fasziniert von der Effizienz unseres Gesundheitssystems. Ich weiß, da gibt es viel zu bemängeln und zu verbessern. Aber wie in großer Sicherheit Metastasen abgefragt werden konnten, auch wie viel Menschlichkeit es im System eben doch gibt, hat mich berührt. Für eine Patientin ist jede Untersuchung neu und einmalig. Für die MTA oder Schwester oder Ärztin ist sie Routine. Da je neu auf einen Menschen einzugehen, der verunsichert ist durch eine Diagnose, das ist eine ungeheure Leistung, die zu wenig wertgeschätzt wird. Aber auch die Dame am Empfang, die deine Daten aufnimmt, bevor du auf Station gehst, leistet ihren Beitrag.
Ich bin dankbar, in einem Land zu leben, in dem es solche technischen Möglichkeiten gibt und in dem unter allem Druck, der wahrnehmbar ist, die Menschlichkeit erkennbar bleibt. Und ich bin dankbar, offenbar noch einmal ein paar Jahre geschenkt bekommen zu haben.