1991 fand die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Canberra, der Hauptstadt Australiens statt. Ich war damals schwanger und hatte überlegt, ob ich so weit fliegen könnte. Eine befreundete Gynäkologin ließ mich die Warnungen vor Langstreckenflügen im dritten Monat in den Wind schlagen. Sie sah da keine Abortgefahr und meinte: „Was sitzt, das sitzt.“
Ich dachte, ich müsste den Flug so preiswert wie möglich gestalten. Statt wie die anderen Delegierten meiner Kirche einen Direktflug Frankfurt-Sydney zu buchen, flog ich erst einmal nach Bangkok. An Bord waren angetrunkene Reisende, die Schnapsaschen aus dem Dutyfree kursieren ließen und auf unangenehmste Weise die thailändischen Stewardessen begrapschten. Von Bangkok ging es nach Bali. Da hatte ich acht Stunden Aufenthalt und habe einen Regenbogen gesehen. Das hat mich ungeheuer getröstet, denn inzwischen wusste ich nicht mehr, warum ich diese lange Reise überhaupt angetreten war. Von Bali ging es weiter nach Sydney. Im Flieger wurde so massiv geraucht, dass mir absolut schlecht war, als ich endlich ankam.
Direkt am nächsten Morgen fuhr ich mit einer sehr gemischten Delegation 1.000 Kilometer mit dem Bus in einen Ort namens Wilcannia. Als Geste der Höflichkeit sollten und wollten wir Aborigines besuchen. Zur Vorbereitung hatte ich den Roman „Traumpfade“ von Bruce Chatwin gelesen. Er beschreibt das Leben der australischen Ureinwohner, die mit der Natur im Einklang leben, über mündliche Überlieferung das Wissen um die Pfade weitergeben, die sie gehen und auf denen sie Nahrung finden. Ich hatte aus dem Roman eine relativ romantisierte Vorstellung von den Aborigines mitgenommen.
Die Realität in Wilcannia war eine völlig andere. Grob gesagt schien es, als hätte niemand eine feste Arbeitsstelle und die Mehrheit der Bevölkerung sei alkoholabhängig. Eine ältere Frau klagte ihr Leid. Niemand wolle ihre mündliche Überlieferung mehr hören. Die Sprache gehe verloren. Die Aborigines versanken in einem Nebel aus Verachtung und Selbstmitleid. Ja, die Missionare hatten daran ihren Anteil. Oft haben sie den Familien die Kinder weggenommen, um sie in Heimen nach ihrem Bilde zu formen. Eine ganze Kultur wurde zerstört.
Es erschien mir zynisch, wenn später während der Konferenz bei offiziellen Anlässen Aborigines geholt wurden, um angeblich australische Kultur zu zeigen – eine Art zweiter Missbrauch nach der Zerstörung. Die Aborigines selbst waren distanziert gastfreundlich. Ich konnte das verstehen. Sie wollten nicht Ausstellungsstücke der Vergangenheit sein. Als sie in den Busch fuhren, ein Känguru geschossen, abgezogen und gegrillt haben, habe ich tapfer mitgegessen...
In einem Gottesdienst rief der Pfarrer die Geister der Ahnen an. Ein deutscher Theologe missbilligte das im Nachgespräch scharf. Da sagte der Pfarrer: „Meinen Sie, der Heilige Geist hat gewartet, bis Captain Cook australischen Boden betrat, bevor er hier gewirkt hat?“ Das habe ich nie vergessen. Wer will denn urteilen, was Inkulturation des Evangeliums ist, etwa hier bei uns in Europa? Wie viel alten Kult haben wir aufgenommen in christliche Rituale, wenn wir etwa an Sonnenwende und Weihnachtsfest denken?
Die Schuld der europäischen Einwanderer gegenüber der Urbevölkerung ist groß. Ich finde gut, dass das Heiligtum der Aborigines, der Uluru, jetzt nicht mehr von Touristen betreten werden darf. Respekt vor der Kultur und der Religion der anderen, das müssen wir offenbar immer noch lernen. Dass Australien mit seiner Weite und Größe, mit dem wunderbaren Strand in Sydney für viele Europäer immer noch ein Sehnsuchtsort ist, verstehe ich ja. Canberra aber ist eine Retortenstadt, merkwürdig, für eine Hauptstadt strahlt sie wenig aus. So weit reisen müsste ich nicht noch einmal. Und die Lage der Aborigines schien mir damals abgrundtief traurig. Der weiße Rassismus, er war auch hier zu spüren. Und die negativen Auswirkungen wohl gut gemeinter Mission eben auch.