Mit Anstand streiten!

Zu Weihnachten ist die Sehnsucht nach der heilen Familie besonders groß. Aber in der Realität wird gerade dann oft am erbittertsten gestritten oder gekränkt geschwiegen. Im schlimmsten Fall kommt die Familie gar nicht zusammen, um Streit zu vermeiden. Streiten will gelernt sein. Das hilft allen, den Jungen wie den Alten.

Mit Anstand streiten!
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Streit in der Familie gibt es immer wieder und er kann extrem belastend sein. Gerade in der Advents- und Weihnachtszeit nehmen Konflikte zu, weil die Harmonie-Erwartungen besonders groß sind. Umfragen haben gezeigt, dass etliche Kinder sogar Angst vor Weihnachten haben, weil sie Streit fürchten. Da geht es um die Frage, wo gefeiert wird, wer mit wem feiert, wie der Baum geschmückt ist. Und weil alles „ganz wunderbar weihnachtlich“ sein soll, ist die Enttäuschung umso größer, wenn es ganz anders ist, Tränen fließen, Türen knallen oder gar Geschirr zerbrochen wird.

Da gibt es Streit zwischen den Generationen. Die alten Eltern sind enttäuscht, weil die Kinder ihnen undankbar erscheinen. Die Kinder sind genervt, weil die Eltern zu viel erwarten. Oder es geht anders herum: Die Großeltern wollen jetzt endlich im Ruhestand das Leben genießen, die Kinder erwarten, dass sie ihnen bei der Betreuung der Enkel zuverlässig zur Verfügung stehen. Und natürlich gibt es den Streit zwischen Kindern im Haus und ihren Eltern. Waren es eben noch die Kinder, für die ihre Eltern die ganz großen Autoritäten waren, beginnen sie mit der Pubertät das zu hinterfragen, rebellieren, tun eigene Ansichten kund. Der berühmte Satz „Solange du deine Füße unter meinem Tisch hast“ sorgt inzwischen eher für Heiterkeit.

Meine Generation hat nicht gut gelernt, offen zu streiten. Als meine Schwestern und ich vor Kurzem gefragt wurden, ob wir in unserer Kindheit und Jugend gestritten haben, mussten wir alle länger überlegen. Wir konnten uns nicht daran erinnern. Ärger wurde eher heruntergeschluckt oder überspielt. Dabei haben wir das gar nicht belastend empfunden, „man“ machte das einfach nicht. Es wurde schon mal zornig eine Tür geknallt, aber offen ausgetragener Streit? Daran konnten wir uns nicht erinnern.

Der Zorn der 68er-Generation in Westdeutschland bezog sich ja auch darauf, dass die Eltern nicht bereit waren, sich Kritik zu stellen, hinterfragen zu lassen, wie sie sich in der Zeit des Nationalsozialismus verhalten hatten. Gehorsamsforderungen wurden in Frage gestellt. Oft entstand dann eine tiefe, schier unüberwindbare Sprachlosigkeit.

Ich finde gut, wenn wir lernen, offen über Verletzungen oder auch Verärgerung zu sprechen. Was sind denn die Erwartungen an eine „gute Mutter“, an einen „guten“ Sohn? Die Verärgerung hinunterzuschlucken beendet Streit nicht, sondern führt eher dazu, dass Distanz entsteht und Positionen sich verhärten. Konflikte mit meinen eigenen Kindern habe ich am liebsten bei einem Spaziergang besprochen. Da fühlt sich niemand eingeengt, es kann auch mal geschwiegen werden und im Gehen liegt ein eigener Rhythmus, der das Reden leichter macht, finde ich. Wenn Konflikte allzu verschwiegen werden, keine Sprache mehr gefunden wird, um sich miteinander zu verständigen, kann es auch sinnvoll sein, eine Familientherapie durchzuführen. Das ist in Deutschland immer noch irgendwie schambesetzt, weil es auf Unfähigkeit hinzudeuten scheint. Ich finde es gut, dass es heute möglich ist, mit dafür ausgebildeten kompetenten Dritten Konflikte zu klären und Verhaltensmuster zu erkennen, um konstruktive Wege des Miteinanders auszuloten. Besonders wichtig ist mir, dass Familien nicht den Kontakt abbrechen. Wir haben gerade in Corona-Zeiten neu gelernt, wie wichtig die Familie ist. Ein Bruder bleibt immer dein Bruder, die Mutter ein Leben lang deine Mutter. Da sollten sich Konflikte doch wirklich bewältigen lassen.

Schlimm ist es, wenn durch eine Scheidung der Konflikt der Eltern auf dem Rücken der Kinder ausgetragen wird. Dann wird gekämpft um jeden Euro Unterhalt, um das Aufenthaltsrecht, um die Urlaubstage. Bitte, bitte, liebe Eltern: Lasst eure Kinder aus eurem Partnerschaftskonflikt heraus! Ihr seid Vater und Mutter dieser Kinder – ein Leben lang. Findet einen Weg, euren Streit loszulösen von euren Kindern. Sie lieben euch beide, und das sollen sie auch in aller Freiheit dürfen!

Und dann gibt es noch den Streit um Materielles. „Versteht ihr euch noch, oder habt ihr schon geerbt?“ – diesen Spruch habe ich kürzlich zum ersten Mal gehört. Er scheint auf Erfahrung zu basieren. Niemand aber hat einen Anspruch darauf, überhaupt irgendetwas zu erben. Wir sind je für unser Leben verantwortlich. Es ist schön, wenn ein lieber Mensch dir etwas hinterlässt. Aber es gibt keinerlei Verpflichtung dazu. Auch hier möchte ich appellieren: Riskiert eure familiären Beziehungen doch nicht durch Streit um Dinge! Das Wichtige im Leben: Familie, Vertrauen, Liebe – lässt sich nicht kaufen! Es lohnt nicht, das eine am anderen zerbrechen zu lassen.

Also: Streit vermeiden, wenn es geht. Mit Anstand streiten auf Augenhöhe, wenn es sein muss. Kinder unter dem Partnerschaftsstreit nicht leiden lassen. Das wäre eine gute Strategie, denke ich, damit unsere Seele nicht durch Familienstreit belastet wird.