Musterland China

Bei einem Vortrag in Hongkong 2015 vertraute eine Zuhörerin Margot Käßmann an, sie habe ständig unter dem Druck gelitten, eine gute Tochter, eine gute Schülerin, eine gute Bürgerin zu sein, dass sie fast am Leben verzweifelte. Das große Land mit der rasanten Entwicklung hat viele Gesichter. Eindrücke aus vier Jahrzehnten.

Musterland China
Margot Käßmann in Peking 1979© privat

1979 war ich zum ersten Mal in China. Das Evangelische Studienwerk Villigst hatte mir ab 1978 ein Stipendium verliehen. Das war zum einen finanziell eine riesige Entlastung, ich konnte alle Nebenjobs aufgeben. Zum anderen gab es viele inhaltliche Anregungen – und das Angebot, mit 21 anderen Studierenden, immer zwei pro Fachrichtung, nach China zu fahren. Wir haben uns ein Jahr lang vorbereitet, jeder musste ein Themengebiet bearbeiten. Von Ost-Berlin ging es nach Moskau und von da mit der transsibirischen Eisenbahn nach Shanghai. Das war ein Abenteuer, bei weitem nicht so komfortabel wie heute! Wir hatten zu 22 ein kleines Waschbecken zur Verfügung, die Verpflegung war deftig und als ich in Shanghai ankam, waren meine langen Haare von der Dampflok derart voller Ruß, dass ich sie kaum sauber bekam. Aber was für ein wundervolle Reise! Ich denke, keiner von uns hat sie vergessen. Immer mit dem Zug ging es von Shanghai nach Peking, nach Nan Chang, Changcha und schließlich Hongkong. Die Reise in der Volksrepublik China dauerte vom 17. August bis zum 3. September.

Wir haben damals ein kleines Buch geschrieben, in dem ich zum einen zwei sehr persönliche Begegnungen mit Jugendlichen festgehalten habe. Ich habe damals geschrieben, nach meinen Erfahrungen sei es unmöglich, „ein Volk mit Begriffen wie ,Ameisenhaufen‘, ,gelbe Gefahr‘, ,rote Revolutionsmasse‘ u.a. auf einen Propagandanenner zu bringen, geschweige denn, es mit einem schlauen Buch über ,den Chinesen an sich‘ auf hundert Seiten ein für allemal abzuhandeln“.

Für die Vorbereitung hatte ich das Thema „Frauen in China“ gewählt. Wenn ich meinen Bericht nach 40 Jahren lese, ist ihm noch heute die Enttäuschung oder sagen wir Ernüchterung abzuspüren. In den Büchern, die ich vorab gelesen hatte, war so viel von der „Befreiung der Frau in China“ die Rede gewesen. Die Realität war ernüchternd. Frauen verdienten weniger als Männer. Schockierend war die Überwachung ihrer Sexualität, in Fabriken wurden gar Listen über Menstruation geführt und es war klar, dass bei einer zweiten Schwangerschaft zur Abtreibung gezwungen wurde. Wenn es eine Möglichkeit zum nicht überwachten Gespräch gab, wurde klar, wie groß der Druck war, eine arrangierte Ehe einzugehen. An einer Hochschule für Landwirtschaft fragten wir, warum so viel weniger Frauen als Männer studierten. Es hieß, der anschließende Beruf sei doch mit viel körperlicher Arbeit verbunden, die Frauen nicht leisten könnten. Dabei hatten wir immer wieder Frauen gesehen, die Steine schleppten oder andere schwere Arbeit verrichteten.

Auf jeden Fall kam ich desillusioniert zurück, es tat mir weh, zu sehen, wie wenig Freiheit die Frauen in diesem Land hatten. Und doch war ich fasziniert von der Schönheit des Landes und der Freundlichkeit der Menschen. Der Schock, Hongkong zu erleben, so viel westlicher, so anders gekleidete Frauen, kurz gesagt: keine Zöpfe, sondern schicke Kurzhaarfrisur, war heftig. Zwei Chinas waren das…

Jahrzehnte später, 2015, habe ich Hongkong besucht und unter anderem einen Vortrag an der dortigen Lutherischen Hochschule gehalten. Eine Frau sagte, sie habe ständig unter dem Druck gelitten, eine gute Tochter, eine gute Enkelin, eine gute Schülerin, eine gute Bürgerin, eine gute Tänzerin, eine gute Musikerin zu sein, dass sie fast am Leben verzweifelte. Die Botschaft, dass der Mensch vor Gott gut genug ist, ohne etwas zu leisten, habe sie zum Christentum konvertieren lassen. Interessant, dass Luthers reformatorische Erkenntnis derart wirken kann im 21. Jahrhundert!

Peking war nicht wiederzuerkennen

Im März 2018 hatte mich dann die evangelische Kirchengemeinde in Peking eingeladen. Peking war nicht wiederzuerkennen. Eine boomende Großstadt mit gigantischem Autoverkehr. Aber: alles überwacht, Kameras überall. Mehr als die Hälfte aller Chinesinnen und Chinesen sind inzwischen durch Gesichtserkennung erfasst. Ein Deutscher, der dort wohnt, meinte, Peking sei so die sicherste Stadt der Welt. An jeder Haustür eine Kamera, jeder Dieb kann sofort gefasst werden. Ich fand das unheimlich. Jetzt kontrolliert der Staat die Menschen absolut. Mit einem Sozialpunktesystem kannst du dir Privilegien erarbeiten oder abgewertet werden. Bei Geburt erhält der Mensch 200 Sozialpunkte. Übertrittst du eine rote Ampel oder besuchst du die Eltern nicht regelmäßig, gibt es Abzug. Es kann sein, dass du dann deine Wohnung verlierst oder nicht mehr reisen darfst. Das übersteigt selbst die Überwachungsfantasien von George Orwell!

China bleibt für mich rätselhaft. Im Schwarzwald sind chinesische Reisegruppen inzwischen an erster Stelle der Besucher. Ob es Wandel durch Annäherung gibt? Ich bin gespannt...