Gott ist nicht länger tabu. Manchmal überrascht mich im Gespräch mit vermeintlich völlig säkularisierten Menschen, wie groß ihr Interesse am Glauben ist. Da sagt eine Journalistin auf meinen Hinweis, Meditation könne ein Weg zu Gott sein, sie mache schon seit Jahren Yoga und sie glaube auch, dass da etwas Göttliches sei, keine Frage, aber die Kirche empfinde sie als so trocken, sie fühle sich so eingezwängt – und doch, frage sie sich...
Immer wieder trauere ich solchen vertanen Chancen nach. Vor mir steht eine junge, am Glauben interessierte Frau, aber unsere Kirche beheimatet sie nicht. Dabei haben wir doch einen solchen Schatz an spiritueller Tradition! Es gibt viele Kurse, in denen Schweigen und Meditieren, Pilgern und Stille gelernt werden können. Mir liegt daran, christliche Spiritualität als Angebot zu stärken, die tragenden Säulen zu klären, die Spannungen nicht zu vernachlässigen und vor allem die Möglichkeiten zu entdecken.
Eine kurze Definition des Begriffes ist kaum möglich. Im Neuen Testament ist immer wieder von Gottes Geist die Rede. Der verwendete griechische Begriff hierfür, pneuma, wird im Lateinischen mit spiritus übersetzt. So sagt Jesus im Johannesevangelium: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (4,24). Das heißt, der Geist steht für die Dimension des Glaubens, die über diese Zeit und Welt hinaus geht, für die Innerlichkeit, für die göttliche Gegenwart, die uns immer neu begeistert. Spiritualität ist damit die Glaubensdimension, die sich durch die dritte Person der Trinität erschließt, den heiligen Geist. Durch Gottes Geist wird unsere Gottesbeziehung erfahrbar. Sie hat ihre Mitte in Jesus Christus und sie erhält ihre Kraft durch den Geist.
Wann immer kritisch gefragt wird: Darf das denn sein in der Kirche? Oder: Ist das denn noch christlich?, denke ich: Wenn die Grundpfeiler fest verankert sind, ist vieles denkbar! Schon der Apostel Paulus hat sich ja mit der Frage befassen müssen, welche Grenzen zu ziehen sind. Er stellt zwei Kriterien in den Vordergrund: ob Jesus Christus in der Mitte steht und mit ihm das Kreuz als Markenzeichen des christlichen Glaubens weltweit und ob es um den Aufbau der Gemeinde geht. Wenn das klar war, konnte Paulus sehr großzügig sein. Dann hat er bei Forderungen nach strengen Gesetzen oder klaren Regelungen für ein weites Herz plädiert. Den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche sein – das ist nicht Anpassung an den Zeitgeist, sondern innere Freiheit. Das bedeutet, Zulassen-Können statt Engstirnigkeit, das meint Offenheit für Neues statt Festhalten am Gewohnten.
Welche Sprache für Spiritualität können wir finden, die weder verkitscht noch altertümlich oder aufdringlich ist, sondern schlicht überzeugend? Jedes der Gleichnisse Jesu lässt sich wahrscheinlich in einer Minute und dreißig Sekunden lesen. Das heißt, Jesus konnte Glaubenswahrheit mit einfachen Worten und lebensnahen Beispielen eindrücklich vermitteln. Ja, diese Gleichnisse sind sogar in allen Kontexten der Welt und durch 2000 Jahre hindurch für Menschen verstehbar geblieben! Der barmherzige Samariter, der verlorene Sohn, das Senfkorn als Zeichen für das Himmelreich – das ist nicht kompliziert, aber hat eine tiefe geistliche Dimension. Vielleicht ist die schönste Sprache des Glaubens die Poesie. Poetische Texte der Bibel von den Psalmen bis 1. Korinther 13 haben die Herzen der
Menschen immer besonders berührt. Entdecken wir also die Bibel neu und die Poesie als Sprache des Glaubens.
Christlicher Gottesdienst ist stets auch eine Gemeinschaftserfahrung im Hier und Jetzt, um den Globus herum und durch die Zeiten. Er kann sich nicht ständig verändern, jeden Sonntag Videoclips einbauen oder eine Talkshow werden. Wird das versucht, verliert er auch Würde. Gottesdienst ist nun einmal keine kurzweilige Unterhaltungssendung. Ich bin dafür, um Gottesdienstteilnahme zu ringen, aber nicht um den Preis von Anbiederung oder Nivellierung der Inhalte. Wir sollten deutlich machen, dass Menschen eingeladen sind, zu kommen aus Freude an Gottes Gegenwart, an der Schönheit des Gotteshauses, an der Liebe zu Gottes Wort, im Bewusstsein der Gemeinschaft.
Das Beten gilt als das Herzstück christlicher Spiritualität. Und es ist wohl auch der einfachste Zugang zu Spiritualität, da bedarf es keiner langwierigen Unterweisung, es betet sich sozusagen von selbst. Und das sollten wir auch nicht verkomplizieren. Martin Luther hat einmal an seinen Barbier Meister Peter über „Eine einfältige Weise zu beten“ geschrieben und ihm Mut gemacht, ganz schlicht das Vaterunser zu sprechen. Nicht allzu viel Brimborium solle gemacht werden, sondern in diesem Gebet sei alles aufgehoben, wenn sich das Herz dafür erwärme. Luther schreibt: „Und ich habe so auch oft mehr in einem Gebet gelernt als ich aus viel Lesen und Nachsinnen hätte kriegen können. Darum kommt es am meisten darauf an, dass sich das Herz zum Gebet frei und geneigt mache ... Was ists anders als Gott versuchen, wenn das Maul plappert und das Herz anderswo zerstreut ist?“ Kraftvoll soll vor allem das „Amen“ gesprochen werden, so Luther, damit wir den Zweifel bekämpfen und fest zu unserem Glauben stehen. Luther hat den Zweifel nie unter den Tisch gekehrt... Mechthild von Magdeburg schreibt: „Das Gebet hat große Macht, das ein Mensch verrichtet mit seiner ganzen Kraft. Es macht ein bitteres Herz süß, ein trauriges Herz froh, ein armes Herz reich, ein törichtes Herz weise, ein zaghaftes Herz kühn, ein schwaches Herz stark, ein blindes Herz sehend, eine kalte Seele brennend.“
Und sollte ich einem Menschen eine Art christliches Handgepäck mit auf den Weg geben, dann wäre neben Bibel und Gebet auf jeden Fall das Gesangbuch dabei. Wie viele Menschen hat allein Paul Gerhardt mit seinen Liedern beeinflusst, kleine Leute vor Ort in ihren oft so bedrückenden Verhältnissen, aber auch die so genannten Großen, Johann Sebastian Bach, Thomas Mann, Günther Grass, Gabriele Wohmann. Das gemeinsame Singen gehört für mich auf jeden Fall zu den Grundpfeilern christlicher Spiritualität.