An der Stadtkirche in der Lutherstadt Wittenberg ist das Relief einer sogenannten „Judensau“ zu sehen. Es ist ein mittelalterliches Bildmotiv, das Juden verhöhnen und bewusst beleidigen sollte. Schweine gelten im Judentum als unreine Tiere. Das Sandsteinrelief von 1305 aber zeigt einen Rabbiner, der einem Schwein unter den Schwanz schaut und dort Juden sieht, die an den Zitzen der Sau trinken. Glasklar, da hat Bosheit den Ausschlag gegeben, andere sollten erniedrigt werden. Sehr christlich ist so eine Haltung wahrhaftig nicht.
Nun war die Frage: Was tun mit so einem Erbe? Ich fand zunächst gut und einleuchtend, wie die Wittenberger Stadtkirchengemeinde reagiert hat. 1988 wurde unter dem Relief eine Zeder aus Israel gepflanzt. Dazu wurde eine Platte in den Bo- den eingelassen, die auf Hebräisch und Deutsch sagt, dass mit jedem ermordeten Juden in Deutschland der Name Gottes geschändet wurde. So habe ich immer verstanden, dass die Kirchengemeinde sagte, das Relief zu entfernen, würde ja die Schuld nicht lindern. Es anzuschauen mit Blick auf die Schuldgeschichte und die Interpretation durch die Kunstinstal- lation, sei sinnvoller.
Inzwischen habe ich meine Meinung geändert, und auch hier gilt ja: Wir dürfen, können, sollen lernen. Das Landgericht Dessau-Roßlau hat die Klage eines Berliner Juden zum judenfeindlichen Relief an der Wittenberger Stadtkirche abgewiesen. Das ist die juristische Seite. Wenn aber ein Mensch jüdischen Glaubens sich aktuell dadurch beleidigt fühlt, ist das für mich eine andere Ausgangsposition. Und ich kann das auch nachvollziehen: Die Beleidigung ist nicht Geschichte, sondern für Menschen jüdischen Glaubens aktuell!
Es ist doch klar: Wir können nicht Schuld dadurch mindern, dass wir die Erinnerungsorte an diese Schuld irgendwie auslöschen. Weder bei Glocken mit Hakenkreuz ist das möglich noch bei antijudaistischen oder antisemitischen Reliefs. Ich bin dafür, das auszuhalten, hinzuschauen, zu erklären, ein Gedächtnis und Bewusstsein zu schaffen. Aber ich sehe es anders, wenn jemand erklärt, er fühlt sich nicht erinnert an Schuld, sondern aktuell und bewusst heute beleidigt, bedrängt, verleumdet. Dann müssen wir als Glaubensgemeinschaft sagen: Raus aus dem öffentlichen Ort, hinein ins Museum! Dort kann erklärt werden, was die Zusammenhänge sind.
Kontrovers: Das heißt für mich in einer Demokratie und auch in der Kirche, dass es gute Argumente für unterschiedliche Positionen gibt, die sich nicht gegenseitig verachten müssen. Es gibt Respekt vor der jeweils verantwortlich vorgetragenen Haltung. Und es gibt die Freiheit, diese auch ändern zu können. Der Stadtkirchengemeinde in der Lutherstadt Wittenberg wünsche ich für die Debatten, die anstehen, Kraft und ein gutes Miteinander auch bei unterschiedlicher Meinung. Das ist am Ende gut protestantisch.