In der Zeit der Coronakrise ist mir noch einmal deutlich geworden, wie viele Menschen mit Ängsten konfrontiert sind, wie viele verschiedene Aspekte das Thema Angst hat und wie wenig Erfahrungen es gibt, über Angst zu sprechen. Alle sollen immer stark, agil, belastbar sein in unserer Gesellschaft. Die großen Ängste des Lebens – Krankheit, Tod, Verlust und sozialer Abstieg – werden nicht thematisiert. Leben soll doch gelingen. Im Rahmen einer Aktion des Magazins STERN waren Ärztinnen, Therapeuten, Seelsorgerinnen, Coaches gebeten, ein paar Stunden in der Woche zur Verfügung zu stellen und Menschen, die sich melden, zurückzurufen. Gerne nahm ich teil. Da habe ich viele unterschiedliche Befindlichkeiten kennengelernt. Eine junge Frau, die unter Depressionen leidet, sagte, es gehe ihr im Grunde genommen besser, weil jetzt viele Angst haben und sie nicht die Außenseiterin ist. Eine alte Dame erzählte, wie auf einmal die Ängste, die sie als Kind in der Kriegszeit hatte, wieder an die Oberfläche schwappen. Und ein Mann aus dem Altersheim meinte, er habe gar keine Angst, zu sterben, er habe mehr Angst, derart isoliert weiterleben zu müssen.
Es gibt offenbar sehr unterschiedliche „Angst-Typen“. Die einen verkriechen sich sozusagen unter der Decke, wollen nichts mehr hören oder sehen. Die anderen lesen alles, hören alles, saugen alles auf – und so steigern sie ihre Angst weit über alle Fakten hinaus. Und wieder andere gehen auf die Angst zu, konfrontieren sich, sind eher ein „Kämpfertyp“. Das alles lässt sich nicht steuern, wir sind geprägt aus der Kindheit, vielleicht auch genetisch, wie wir mit Angst umgehen.
Nun bin ich keine Psychologin, keine Therapeutin und auch sonst keine Expertin zum Thema Angst: Ich kann mich nur aus biblischer und theologischer Sicht dem Thema nähern. Dieses Gefühl der Enge, der Beklemmung, der Bedrängnis, das, anders als die Furcht, gar nicht immer ganz konkret durch einen Anlass ausgelöst sein muss, das kennt die Bibel sehr wohl. Vor allem in den Psalmen gibt es die Bitte an Gott, vor Angst zu bewahren, Angsterleben wird vor Gott gebracht. Die Ängste der Menschen werden in der Bibel sehr ernst genommen. In den Texten wird deutlich: Angst ist nichts Abstraktes, sondern wird je ganz persönlich erlebt, erfahren und bewältigt. Das ist mir wichtig. Christinnen und Christen können den Mut haben, zu ihren Ängsten zu stehen, niemand muss so tun, als sei er oder sie angstfrei. Angst ist keine Schande. Aber Angst ist auch ein sehr persönliches Thema. Wer über eigene Ängste spricht, zeigt sich verletzbar, ja verwundbar. Und gleichzeitig können unbewältigte Ängste zerstörend wirken, sie müssen ausgesprochen, benannt werden. Zum Umgang oder auch zur Bewältigung von Angst gehört gerade auch das Mitteilen, das Gespräch. Dazu braucht es Verstehen und Vertrauen.
Im Johannesevangelium sagt Jesus in seinen sogenannten Abschiedsreden: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (16,33) So wird deutlich, dass Jesus uns nicht einfach von aller Angst befreien kann. Nein, Angst gehört zum Leben. Angela Merkel hat einmal gesagt, Angst sei kein guter Ratgeber. Das stimmt, denn zu große Angst kann uns lähmen. Aber Angst kann ja auch ein wichtiges Gefühl, eine Warnung sein.
Vor allem aber ist Angst ein Zeichen der Verletzbarkeit des Lebens. Wenn Jesus als der auferstandene Christus die Welt überwunden hat, bedeutet das nicht, dass er sie als irrelevant ansieht, das ist keine Ermutigung zur Weltflucht! Aber er stellt unsere Ängste in einen weiteren Horizont. Gottes Zeit und Welt ist größer als das, was wir sehen, und eines Tages bei Gott werden alle Ängste aufgehoben sein in der großen Gnade Gottes. Darauf hoffen wir, ohne damit diese Zeit und Welt abzuwerten. In ihr leben wir, in ihr gilt es, mit der Angst zu leben, sie anzunehmen und doch auch so zu bewältigen, dass sie nicht Leben zerstört. Gottvertrauen, sich von Gott getragen und geborgen wissen – das ist wohl die beste Kraftquelle in der Auseinandersetzung mit der Angst.
Ich hatte in meinem Leben weniger Angst um mich als Angst um andere, um Menschen, die ich liebe. Alle Eltern kennen dieses Gefühl: Was, wenn etwas passiert ist? Und es gibt eine Angst um die Kinder, die nicht emotionaler, sondern grundsätzlicher Natur ist: Wie soll denn ihre Zukunft aussehen? Mir hat Gottvertrauen mit Blick auf die Kinder immer geholfen. In der Taufe vertrauen wir sie Gott an. Das setzt sie nicht unter eine große Käseglocke von Sicherheit. Aber sie sind doch Teil von Gottes Welt, die größer und weiter ist als alles, was wir sehen und erkennen.
Entscheidend ist, ob wir mitten in den Stürmen des Lebens die Glaubensgewissheit haben, uns Gott anzuvertrauen. Jesus selbst hat das immer wieder getan. Er hat eine vertrauensvolle Gottesbeziehung aufgebaut, die ihn getragen hat bis in das Sterben und durch den Tod hindurch. Ich bin überzeugt, dass Menschen, die an Gott glauben, Angst überwinden können. Wenn Gott ja zu mir sagt, muss ich nicht täglich beweisen, was ich kann. Dann geht es auch nicht um Ansehen. Wenn Gott mich auch über Leiden und Tod hinaus hält, kann ich Gott mein Leben und Sterben anvertrauen. So finde ich den Mut, mich selbst loszulassen und einzutreten für andere, für Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung. Da mag ich scheitern, andere mögen mich belächeln, aber das ist für mich kein Urteilskriterium. Wenn die Angst vor dem Tod überwunden ist, werden andere Ängste offensichtlich relativiert. Und das ist nicht „Opium des Volkes“, das uns betäubt angesichts der Realität. Für mich ist es Kraftquelle, mich ohne Angst einzumischen in diese Welt.