Was ist die Geschichte deines Lebens?

Sich in fremder Umgebung und Kultur zu beheimaten, ist ein kreativer Prozess. Es ist eine Chance für uns alle, Menschen aus fremden Ländern bei uns vor Ort zu begegnen.

Was ist die Geschichte deines Lebens?
Menschen aus fremden Ländern zu begegnen, ist immer auch eine Chance zur Bereicherung.© rawpixel.com/shutterstock;

Vor einiger Zeit verbrachte ich während eines USA-Aufenthaltes einen netten Abend mit interessanten Menschen an einem Tisch. Ein Mann ist armenisch-italienischer Abstammung, die armenische Tragödie ist für ihn ein Lebensthema. Eine andere ist Jüdin mit vielfältigem Lebenslauf, ihre Eltern sind aus Deutschland geflohen und über Israel und Südamerika in die USA gekommen. Ein Mann denkt über seine afrikanischen Wurzeln nach und darüber, dass der Nachname „Smith“ eigentlich der Name der Sklavenhalter seiner Vorfahren gewesen sein wird. Eine junge Frau hat einen Vater aus der Mongolei und eine chinesische Mutter. Jemand fragt: „And what is your life ́s story?”

Was macht eine Nation aus, was eine Kultur, eine Wertegemeinschaft? In Deutschland wird diese Frage in den vergangenen Jahren zunehmend hit- zig diskutiert. Schleudern die einen denen, die sich für ein Miteinander der Kulturen einsetzen, ein verächtliches „Multikulti“ als Schimpfwort entgegen, so zucken die anderen allein beim Gedanken an eine „Leitkultur“ zusammen. Deutschland ist zwar anders als die USA, aber inzwischen definitiv auch ein Einwanderungsland. Die Frage ist, ob es energischen Gestaltungswillen gibt oder Abwehr, Angst und Abschottung. Warum feiern wir nicht die ungeheure Integrationsleistung Deutschlands erst der Flüchtlinge aus dem Osten nach 1945 und schließlich der Italiener, Griechen, Jugoslawen, Türken und anderen Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen eingeladen wurden, in unserem Land zu leben? Warum sind wir nicht stolz darauf, wie viele Menschen aus dem Iran, aus Pakistan, aus dem Sudan bei uns Asyl erhielten? Ein Weg nach vorn wird sich nur ergeben, wenn wir die positiven Bilanzen sehen und offensiv die problematischen Entwicklungen angehen.

In der kulturellen Differenz sehen viele eine besondere Befremdung. Aber erst in der voraussetzungslosen Begegnung mit dem Fremden kann uns die Erfahrung verändern. Eine solche Haltung er- fordert Aushalten, Begegnen und Erfahren des Fremden. In der Differenz kann ich mich selbst immer wieder neu beobachten und kennen lernen. Der Philosoph Jürgen Habermas hat bereits 1985 von der neuen „Unübersichtlichkeit“ gesprochen. War die Nachkriegswelt des vergangenen Jahrhunderts noch wohl geordnet und von klaren Regeln bestimmt, so gibt es heute eine nahezu unübersehbare Fülle von Lebensentwürfen. Die Technologie verändert zudem das Leben der Menschen rasant. Das hat Vorteile in der Kommunikation, aber es bringt auch Nachteile von Entfremdung und Unbehaustsein. Die Vielfalt der modernen Gesellschaft ist Bereicherung und Bedrohung. Und sie führt zu Begeisterung und Abwehr. Dabei spielt auch der Glaube eine Rolle. Religionen müssen alles daran setzen, nicht länger Faktor der Konfliktverschärfung zu sein, sondern tatsächlich Konflikte über Religionsgrenzen hinweg zu entschärfen.

Wie eigentlich geht es den „Menschen mit Migrationshintergrund“? Sie wer- den neuerdings diffamiert und beleidigt als „Produzenten von Kopftuchmädchen“ (Thilo Sarrazin). Das ist für jede Mutter und für jeden Vater zutiefst verletzend. Der verächtliche Ton ist bewusst gewählt. Wie viele Menschen haben das erlebt. Auch Deutsche wohlgemerkt etwa auf und nach der Flucht am Ende des Zweiten Weltkrieges. Ein scheußliches Gefühl: Ich bin nicht willkommen. Und je mehr ich das spüre, desto mehr ziehe ich mich zurück. Dabei gibt es auch eine Anpassung an das neue Lebensumfeld. Türkische Einwanderer setzen große Hoffnungen auf die Bildungsleistung ihrer Kinder, ganz anders als populistische Pamphlete vermuten lassen.

Wie sagt Karl Valentin so unübertroffen: „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.“ In Amerika wird an vielen Orten mit großer Begeisterung Oktoberfest gefeiert und es gibt bis heute die New Yorker Staatszeitung – German Times „Für Weltbürger Deutscher Sprache“. Auf Mallorca gibt es ein Altenheim des Dia- konischen Werkes für Deutsche. Nichts daran empfinden wir als bedrohlich. Es wirkt vielmehr wie eine gelungene Integration: das Eigene bewahren, sich im Neuen beheimaten. Viele Menschen haben das auch in Deutschland erlebt. Sie kennen ihre Wurzeln in der Türkei oder in Italien, im Iran oder in Portugal, in Nigeria, dem Irak oder in Griechenland. Sie haben eine große Liebe zu ihrer alten Heimat, in der sie oder ihre Eltern aufgewachsen sind, in der ihre Großeltern und Verwandten leben. Und sie haben eine große Liebe zu Deutschland, wo sie neue Freiheit gefunden haben, sich zuhause fühlen, ihre Kinder aufwachsen. Es gibt längst gelungene Integration – das darf doch durch Hetzparolen nicht zerstört werden. Und uns liegt offenbar auch an Zuwanderung und internationaler Öffnung nationaler Grenzen. So hält das Emirat Katar inzwischen 17 Prozent der Anteile von VW. Arabische Investoren werden offensiv angeworben. Warum ist das leichter, wenn es um Geld, als wenn es um Menschen geht?

Wer nach Deutschland zuwandert, muss deutsches Recht akzeptieren, das ist keine Frage. Und: Sprache integriert. Des- halb ist es richtig und wichtig, Sprachkompetenz zu fördern. Wer einmal in einem fremden Land war und sich nicht verständigen konnte, weiß, wie groß die Sehnsucht ist, sich verständigen zu können. Wer zuwandert, wird dieser Anforderung begegnen, sie aber auch selbst wünschen. Eine aus der Türkei stammende Frau sagte mir einmal, sie lebe seit 16 Jahren in Deutschland, habe aber noch nie ein deutsches Wohnzimmer gesehen. Es würde sie interessieren, wie Deutsche leben. Uns fehlt offensichtlich eine Begegnungskultur. Freuen wir uns über die Gastfreundschaft, die wir im Ausland erleben, so ist die unsere offenbar recht mager ausgeprägt. Ich erinnere an den Hebräerbrief, in dem es heißt: „Vernachlässigt nicht die Gastfreundschaft; denn durch sie haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“ (13,2)

Menschen, die aufbrechen, haben Mut. Sich in fremder Umgebung und Kultur beheimaten, ist ein kreativer Prozess. Menschen aus fremden Ländern bei uns vor Ort zu begegnen, ist eine Chance zur Bereicherung. So gesehen ist Zuwanderung ein Glücksfall. Abschotten aber, sowohl der Zugewanderten als auch der „einheimischen Bevölkerung“ führt zu Stagnation, Angst, Abwehr. Deshalb ist nicht Abgrenzung, sondern Begegnung der Schlüssel zur Zukunft.