Im Römerbrief schreibt der Apostel Paulus: „Wenn nun einige von den Zweigen ausgebrochen wurden, du aber, der du ein wilder Ölzweig bist, in den Ölbaum eingepfropft wurdest und Anteil bekommen hast an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums, so rühme dich nicht gegenüber den Zweigen. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Römer 11, 17f.)
Das ist ein beeindruckendes Bild, finde ich, das wir gut verstehen können. Noch heute gehen Experten, die etwa Obstbäume veredeln, so vor. Einem soliden Baum wird ein wilder Zweig eingepfropft, um ihn zu verändern, eine neue Sorte möglich zu machen. Und genau so kann ich auch das Verhältnis von Menschen jüdischen und christlichen Glaubens heute verstehen.
Es gibt diesen großen, wunderbaren, Jahrtausende alten jüdischen Glauben. Und dann ist da vor zweitausend Jahren ein Mann, der ihn öffnet für andere. Der Apostel Paulus macht deutlich, dass die Botschaft von Gottes Liebe allen Menschen gilt. Du kannst dich ganz frei Gott zuwenden – und Gott hat sich dir längst schon zugewandt. Daran darfst du glauben, darauf darfst du vertrauen!
In der frühen Christenheit war die Frage, ob ein Mensch erst zum jüdischen Glauben finden muss, um Christ zu werden. Ja, sogar Jesus hatte anfangs seine Aufgabe darin gesehen, allein Menschen jüdischen Glaubens anzusprechen. Es ist eine Frau, die ihm zur Lehrerin wird, als sie sagt, die Hunde würden ja auch die Brotkrumen essen, die unter den Tisch fallen. Kurz gesagt: Das Wort Gottes, das Jesus verkündigt, ist für alle Menschen bestimmt.
Christinnen und Christen sind deshalb so etwas wie die jüngeren Geschwister des Judentums. Jude bzw. Jüdin wirst du als Kind einer jüdischen Mutter, manchmal auch durch bewussten Übertritt zum jüdischen Glauben. Christ bzw. Christin wirst du durch die Taufe in der Tradition, in der der Jude Johannes den Juden Jesus getauft hat.
Wenn wir das so sehen, muss uns absolut empören, irritieren, dass es in Eisenach ein „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ gegeben hat. Diesen Einfluss zu beseitigen, hieße ja, den Stamm des Ölbaumes zu beseitigen, in den wir eingepflanzt sind als Christen, um im Bild des Paulus zu bleiben. Es hieße, die Wurzel zu kappen, von der wir doch leben.
Ich kann nicht begreifen, dass evangelische Landeskirchen während der Zeit des Nationalsozialismus die irrwitzige Idee hatten, mit diesem „Entjudungsinstitut“ aus der Bibel und dem Gesangbuch alle Verweise auf das Judentum zu streichen. Alle Bezüge und Verweise auf den hebräischen Teil der Bibel sollten getilgt werden. Das gerade in Eisenach zu tun, ist besonders absurd. Denn es war Martin Luther, der mit seiner hier auf der Wartburg begonnenen Übersetzung stetig vom hebräischen auf den griechischen Teil der Bibel verwies. Und Luthers Antijudaismus speiste sich gerade daraus, dass Menschen jüdischen Glaubens die Verweise, die er in ihrer Heiligen Schrift auf Jesus Christus hin sah, schlicht so nicht sehen.
Akademischer Direktor des Instituts war der Neutestamentler Walter Grundmann. Das hat mich schockiert, als ich begriffen habe, dass auch ich seine Kommentare zu neutestamentlichen Büchern im Regal stehen habe. Grundmann durfte ab 1950 wieder als Pfarrer arbeiten, wurde Dozent für Bibel am Eisenacher Katechetenseminar und erhielt den Titel „Kirchenrat“. Seine Veröffentlichungen waren in Deutschland Ost und West hoch anerkannt. Das ist am Ende unfassbar. Denn das ist deutlich: Das sogenannte „Entjudungsinstitut“ der Deutschen Christen hat erheblich dazu beigetragen, den Judenhass zu schüren und die menschenverachtende Ideologie der Nationalsozialisten zu legitimieren. Wie schrieb Grundmann: „Der Jude muß als feindlicher und schädlicher Fremder betrachtet werden und von jeder Einflußnahme ausgeschaltet werden.“ Dass ein evangelischer Theologe so etwas von sich gegeben hat, macht fassungslos.